Was bewegt Hessen?

Inklusion

Im Bereich Bildung und Schule vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht irgendwo in der Zeitung eine Notiz zum chronischen Lehrermangel findet. So hat die Bertelsmann-Studie von Juli 2017 mit dem gängigen Argument der Landesregierung aufgeräumt, man könne Lehrkräfte einsparen, da angeblich die Schülerzahlen zurückgingen. Das tun sie nicht, im Gegenteil, in der Prognose wird bereits berechnet, das die Schülerzahlen aufgrund von Zuwanderung und höherer Geburtenrate in den nächsten fünfzehn Jahren um 8 % steigen werden. (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/demographische-rendite-ade). In Frankfurt zogen zu Beginn des Schuljahres schon einzelne Grundschulklassen demonstrierend vor das Staatliche Schulamt, weil sie die geplante Zusammenlegung der Klassen aufgrund fehlender Lehrkräfte nicht dulden wollen. Mit den fehlenden Lehrern nimmt die Kritik an der Ausstattung der Schulen auch im Bereich der Inklusion natürlich zu. Problematisch wird es dann, wenn der akute Lehrermangel von den Gegnern der Inklusion dazu genutzt wird, ihre Vorstellung vom Zurückdrehen des Rades und dem Erhalt der Förderschulen laut kundzutun.

Gemeinsam leben Hessen e.V. hat daher gemeinsam mit den hessischen Elternverbänden (u.a. Wir Dabei! e.V.) am 13. Juli 2017 einen Offenen Brief an Ministerpräsident Bouffier und Kultusminister Lorz verfasst und gefordert, Bildung zum Schwerpunktthema der hessischen Politik zu machen und mehr Geld in den Etat für Bildung einzustellen, um die Lehrerversorgung auch für die Inklusion zu sichern. Die Antwort darauf war unbefriedigend.

Inklusive Schulbündnisse

Der akute Lehrkräftemangel (insbesondere in den Bereichen Grundschule und Sonderpädagogik) führt zu einer prekären Situation an vielen hessischen Schulen. Seit letztem Schuljahr werden in Hessen Stück für Stück die sog. „inklusiven Schulbündnisse“ zur Bündelung der Ressourcen eingeführt. Bereits jetzt sind alle Schulen bestimmten Beratungs- und Förderzentren (BFZ) zugeordnet, und die verschiedenen verantwortlichen Akteure müssen sich untereinander austauschen. Hierfür sollen nun feste Strukturen geschaffen werden, um ein festes und verbindliches Netzwerk vor Ort aufzubauen: Mindestens zweimal im Jahr treffen sich alle Partner/Schulen in den sogenannten Bündniskonferenzen. Dort stimmen sich die Partner über „die Standorte für den inklusiven Unterricht“, über die vorhandenen Ressourcen zur sonderpädagogischen Förderung, über Aufgabenteilung und gemeinsame Verantwortung für die SchülerInnen etc. ab. Im Ergebnis soll zwar für jeden Schüler / jede Schülerin der geeignete Schulort gefunden werden und die Wünsche der Eltern nach Inklusion möglichst berücksichtigt werden. Hessen gibt jedoch damit weitgehend die wohnortnahe Beschulung von Kindern mit Behinderungen auf und schafft voraussichtlich ein System von Schwerpunktschulen.

Polarisierung im Wahlkampf mithilfe von Inklusionskritik

In NRW wurden Inklusion in der Schule und die Mängel in ihrer Umsetzung vor den Landtagswahlen durch FDP und CDU kräftig thematisiert. Das geschah leider nicht mit dem Ziel, die Umstände und Bedingungen im schulischen Umfeld verbessern zu wollen, sondern diente zur Polarisierung mit dem Ergebnis einer offenen Debatte, ob Inklusion überhaupt gut oder notwendig sei. Dies schlägt sich auch in Hessen nieder. Es gibt zahlreiche Schulen, in denen Lehrkräfte Inklusion mehr oder weniger verweigern mit dem Verweis darauf, dass sie sich zu wenig unterstützt fühlen und die Beschulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf (aber z.T. auch nur mit körperlichen Einschränkungen oder chronischen Krankheiten!) nicht als ihre Aufgabe betrachten. So mussten wir uns in vielen Frankfurter Förderausschüssen (ein Förderausschuss dient eigentlich zur Organisation der sonderpädagogischen Ressource im inklusiven Unterricht und nicht zur Gretchenfrage „Inklusion oder nicht?“) fragen lassen, ob wir es nicht als Zumutung für die Lehrer und für das eigene, arme Kind erachten, hier noch auf Inklusion bestehen zu wollen.

Auch bei den Bundestagswahlen diente Inklusion zur Kritik an der Regierungspartei, ebenfalls mit dem Ziel, das Rad zurückzudrehen. Gerade von der FDP kam die Forderung die Umsetzung zu verlangsamen bzw. auszusetzen. Traurig dabei die Rolle der Vorsitzenden der Bundesfraktion der FDP, Frau Nicola Beer, die es als ehemalige Kultusministerin Hessens eigentlich besser wissen sollte.

In Hessen finden in diesem Jahr Landtagswahlen statt. Der Wahlkampf ist bereits gezeichnet von der Agitation der kommunalen Spitzenverbände, insbesondere des Hessischen Städtetags gegen die Übernahme von Verantwortung zur Umsetzung der Inklusion in der Schule durch die Kommunen und Kreise. In der Folge nimmt die Verweigerung von Bewilligungen der Teilhabeassistenz für das einzelne Kind in der Schule zu (die jedoch nach SGB originäre Aufgabe der kommunalen Ebene ist), es ist ein zunehmender Machtkampf zwischen Landes- und kommunaler Ebene zu beobachten, der auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird.

Die Landesregierung (Kultusministerium) hat 700 Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte zugesagt, die als Landesbedienstete eingestellt werden sollen. Doch höchstens eine Kraft pro Schule ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, außerdem bleibt abzuwarten, ob diese Stellen bei gleichzeitigem Fachkräftemangel überhaupt besetzt werden können.

Elternwahlrecht statt Förderschulzwang?

Das Hessische Schulgesetz gibt Inklusion als Regelfall vor. Förderschule als Ausnahmeregelung auf Wunsch der Eltern. Mit der letzten Änderung des Schulgesetzes im Mai diesen Jahres wurde nochmals explizit festgestellt, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der örtlichen Grundschule nicht nur angemeldet, sondern sogar aufgenommen werden. Den Eltern bleibt es weiterhin überlassen, in eigener Entscheidung die Förderschule zu wählen, d.h. es besteht also ein einseitiges Wahlrecht der Eltern (nicht der Lehrer!) zur Förderschule. Wählen die Eltern die Förderschule nicht, so geht das Kind also in die Inklusion. Das sagt das Gesetz, doch die Praxis sieht anders aus.

Eltern wird gern anschaulich, breit gefächert und umfangreich seitens der Schule dargelegt und erklärt, dass sie ihr Kind am besten gleich in der Förderschule anmelden. Die Argumente sind die üblichen: das Kind brauche viel individuelle Förderung, es brauche eine kleine Lerngruppe, Homogenität statt Heterogenität. Und haben die Eltern mit Verweis auf den aktuellen Forschungsstand das alles widerlegt, sehen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, die allgemeine Schule über Gebühr zu belasten. Es wird auf die Unterversorgung in den Schulen und die zahlreichen Probleme der Lehrkräfte verwiesen und an das Gewissen der Eltern appelliert. Schließlich müssten doch die Sorgeberechtigten Sorge dafür tragen, dass das eigene Kind im allgemeinen System nicht untergehe und daher bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Förderschule völlig freiwillig zu wählen. Die Zuweisung zur Förderschule wird also ersetzt durch das Elternwahlrecht, und bei entsprechendem Druck auf die betroffenen Eltern führt es für die Schulen auch zum gewünschten Erfolg. Der konservativen CDU-Landesregierung kommt das natürlich sehr entgegen, kann man doch über das Elternwahlrecht den Erhalt des segregierenden Systems gut rechtfertigen.

„Recht haben“ und „Recht durchsetzen“ sind zwei verschiedene Paar Schuhe:

Wir erleben zunehmend, dass sich zwar die Rechtslage aufgrund von Änderungen im Schulgesetz bzw. durch eine gesicherte Rechtsprechung in Bezug auf das SGB bessert, sich Behörden jedoch einfach nicht daran halten. Sowohl die Schul- als auch die Sozialbehörden ignorieren Anträge, verzögern Bewilligungsverfahren, beraten Eltern einseitig, bleiben untätig etc. Die Förderschule ist und bleibt dagegen das „Rundum-Sorglos-Paket“, für das sich viele Eltern nicht freiwillig entscheiden, sondern weil Ihnen der Mut, die Kraft und die Energie für den Kampf um Inklusion am Ende nicht reichen ...

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