Die Erziehungsvereinbarung

Nachteilsausgleich Recht auf Bildung

Die Erziehungsvereinbarung wird von Schulen (u.a. gerade auch Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung) regelmäßig dazu genutzt, die Schulpflicht für einzelne Kinder und Jugendliche zu umgehen. Eltern werden auf Grundlage einer solchen Erziehungsvereinbarung genötigt, einer zeitlich teils drastisch verkürzten Beschulung zuzustimmen.

Schulen und Eltern können zur gemeinsamen Ausgestaltung ihres jeweiligen Erziehungsauftrages Erziehungsvereinbarungen treffen (§ 100 Abs. 2 Hessisches Schulgesetz). Die Eltern sind beim Abschluss der Erziehungsvereinbarung auf den mit ihr verfolgten Zweck und die Freiwilligkeit hinzuweisen. (§ 1 a VOGSV)

Die Erziehungsvereinbarung unterliegt strengen schulrechtlichen Vorschriften und darf seitens der Schulen nicht missbraucht werden:

Die Erziehungsvereinbarung nach § 77 Abs. 4 VOGSV

  1. ist nach dem Schulrecht nur für Schüler*innen mit dem Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung (EMS) vorgesehen;
  2. muss im Einvernehmen mit der Schulaufsichtsbehörde festgelegt werden
  3. darf maximal für die Dauer von drei Monaten gelten;
  4. beinhaltet im Förderplan die Beschreibung der Förderziele, welche die Schülerin oder der Schüler mit schulischer und elterlicher Unterstützung erreichen sollte, damit sie oder er wieder vollständig am Unterricht teilnehmen darf.
  5. In Ausnahmefällen ist eine einmalige Verlängerung um bis zu drei Monate möglich.

Die Schulen drohen bei Weigerung der Eltern, die von ihnen gewünschte Erziehungsvereinbarung zu unterschreiben, im Gegenzug mit der Festsetzung von Ordnungsmaßnahmen. Diese beinhalten den vollständigen Ausschluss des Kindes vom Unterricht für die Dauer eines Tages bis hin zu vier Wochen.

Doch bei der Festsetzung von Ordnungsmaßnahmen hat die Schule ein verwaltungsrechtliches Verfahren zu beachten. Es gilt zudem immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Weniger schwerwiegende Maßnahmen haben Vorrang.

Bei der Androhung von Ordnungsmaßnahmen empfiehlt es sich anwaltliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen oder sich an die Schulaufsicht zu wenden und sich gegen mögliche rechtswidrige Absichten der Schule zu wehren.

Gerade den Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (d.h. für Schüler*innen mit geistiger Behinderung!), die sich zunehmend der Erziehungsvereinbarung und der Ordnungsmaßnahmen bedienen, um für sie anstrengende Schüler*innen loszuwerden, ist entgegenzuhalten, dass gerade diese Schulform dazu gedacht ist, für die Schüler*innen mit geistiger Behinderung und ihrem oft daraus hervorgehenden herausfordernden Verhalten die individuelle Förderung zu gewährleisten. Auch Schüler*innen mit geistiger Behinderung haben einen individuellen Rechtsanspruch auf Bildung. Diesen hat die Förderschule durch geeignete pädagogische Maßnahmen umzusetzen.

Die Unterrichtsverkürzung auf Basis einer Erziehungsvereinbarung steht immer im Widerspruch zur Aufgabe der Schule, den verfassungsmäßig garantierten Rechtsanspruch des einzelnen Kindes auf Bildung umzusetzen. Die Schule kann diese Pflicht zur Umsetzung nicht mit einer Entscheidung oder gar durch das erwzungene Einverständnis seitens der Eltern aushebeln. Eltern haben nach Art. 7 GG keine Befugnis zur (Nicht)-Realisierung der Schulpflicht und schon gar kein eigenes Recht, dem Kind den individuellen Rechtsanspruch auf Bildung vorzuenthalten. Der Druck, der zudem damit auf die Eltern ausgeübt wird, ist für diese nicht zumutbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht des einzelnen Kindes auf Bildung definiert. Dieses gilt diskriminierungsfrei auch für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen.

… der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind. [RN 45]

Auch Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. [RN 46]

Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen. [RN 48]

Das Recht auf schulische Bildung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG gibt Schülerinnen und Schülern die Befugnis, die Einhaltung eines für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen an staatlichen Schulen zu verlangen.

Eine Diskriminierung behinderter Menschen beim Zugang zur Schule verbietet Art. 24 Abs. 2 Buchstaben a und b des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [...], wobei nach Art. 24 Abs. 2 Buchstabe c [UN-]BRK angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule zu ermöglichen. [RN 69]

Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21