AD(H)S ist kein Erziehungsfehler der Eltern, sondern eine Behinderungsform, die fachärztlich diagnostiziert wird und damit von dritter Seite nicht in Zweifel zu ziehen ist. Der/die Betroffene benöÂtigt Verständnis und Geduld. Jede Beeinträchtigung hat bestimmte Barrieren und braucht daher speziÂfische Hilfsmittel, um sie auszuräumen.
Diese Gruppe von Störungen ist charakterisiert durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen. Hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ist häufig, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional oft vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl.
F90.0: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
F90.1: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
F90.8: Sonstige hyperkinetische Störungen
F90.9: Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet
F98.80: Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Sie orientiert sich am DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und ordnet sie den „neurodevelopmental disorders“ zu, deren Beginn vor dem Alter von 12 Jahren liegt. Die SymÂptomdauer muss weiterhin mindestens 6 Monaten betragen und erheblich vom Entwicklungsstand Gleichaltriger abweichen. Ausmaß und Symptome in zwei oder mehr Lebensbereichen verursachen bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
Damit wird ADHS mit den Entwicklungsstörungen der neuronalen Reifung verknüpft. Ähnlich wie bei der Autismus-Spektrum-Störung sind diese Störungen in einer anderen neuronalen ReizverÂarbeitung im Vergleich zu „neurotypischen“ Menschen begründet sind. Die geistigen Systeme, die unsere Orientierung und unser Verhalten im gemeinsamen Raum gewährleisten, funktionieren anÂders. Die Wahrnehmungsverarbeitung und die zentrale Kohärenz unterscheiden sich bei den BeÂtroffenen von denen der „neurotypischen“ Menschen.
Die ICD-11 betont mit ihrer fortlaufenden Bezeichnung der Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktiviÂtätsstörung (ADHS) die Bedeutung der Unaufmerksamkeit neben den Merkmalen der HyperaktiviÂtät und Impulsivität.
Die ICD-11 verzichtet bei ADHS nun auf eine Kombinationsdiagnose, wie sie bei der ICD-10 z.B. mit der Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit (F90.0) oder der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) noch gegeben war. Sie macht dafür nun zwei getrennte Diagnosen erforderÂlich, wenn die Kriterien für beide Störungen erfüllt sind. In den Subkategorien unterscheidet die ICD-11 nach dem DSM-5 zwischen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung mit vorÂwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild, mit vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Merkmalen soÂwie einer gemischtem Ausprägung.
Die vier Kardinalsymptome, Mangel an Aufmerksamkeit, Impulsivität, Ãœberaktivität und emotioÂnale Instabilität, beeinträchtigen den/die Schüler*in in ihrem schulischen Alltag oft sehr. Hinzu kommen fast immer affektive Störungen.
Bis ins Erwachsenenalter haben diese Schüler*innen Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen. Ihre Impulsivität kann dazu führen, dass Gespräche unterbrochen werden oder unangemessene BeÂmerkungen gemacht werden. Sie haben Probleme, anderen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken und vergessen teilweise Anweisungen oder Verpflichtungen. Sie wirken eventuell desinterÂessiert, zerstreut, unzuverlässig oder gar respektlos. Schule ist über ihren Erziehungsauftrag dann geÂfordert. Ihre Möglichkeiten und Maßnahmen auszuschöpfen, um die Symptome von ADHS in den Griff zu bekommen und die soziale Interaktion zu verbessern.
Denn Kinder und Jugendliche können lernen ihr impulsives Verhalten zu kontrollieren, sich in GeÂsprächen zu konzentrieren und Zusagen einzuhalten. Aufgrund der Beeinträchtigung und den damit oft einhergehenden Affektstörungen haben sie meist wenig Selbstbewusstsein und benötigen mehr Aufmerksamkeit und insbesondere regelmäßig Lob und Bestärkung (s.u. Förderplanung).
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen benötigen daher angemessene Vorkehrungen im Sinne eiÂnes Nachteilsausgleichs sowie – gerade zu Schulbeginn und in jüngeren Jahren – Anleitung durch die Lehrkräfte und Techniken und Hilfsmittel, die ihnen helfen, sich im Unterrichtsalltag einzufinÂden und sich auf die Aufgabenstellungen zu konzentrieren sowie angemessene Beziehungen im soziaÂlen Miteinander aufzubauen. Die Schwerpunkte der individuellen Förderung sollten also in den Kompetenzbereichen „Arbeitsverhalten“ und „soziale-emotionale Entwicklung“ liegen.
Aus der abweichenden Wahrnehmungsverarbeitung ergeben sich Probleme hinsichtlich der Fähigkeit, sich einem Thema unverzüglich zuzuwenden.
Ist der/die Schüler*in mit noch nicht bekannten/nicht vertrauten Situationen konfrontiert, muss sie sich zunächst erst sammeln und aktiv darum bemühen, einen konzentrierten Zustand zu erreichen. Menschen mit ADHS sind ständig aktiv damit beschäftigt, Reize zu erkennen und zu filtern. Dieser Vorgang, der immer gesondert abläuft, verbraucht Energie und Zeit. Es ist also eine große Anstrengung erforderlich, um die Reize so auszublenden, dass das eigentliÂche Thema in den Vordergrund rückt.
Für die bewusste Ausblendung von Störreizen und das Erreichen eines konzentrierÂten Zustands benötigt er/sie in ungewohnten Situationen sowie in Prüfungssituationen eine angemessene Zeitverlängerung.
Aufgrund der Reizfilterschwäche bestehen in der Folge auch eine hohe Ablenkbarkeit und die Schwierigkeit die Konzentration auf den Lern/Arbeitsgegenstand kontinuierlich zu halten.
Das Abschweifen bzw. das Wahrnehmen von Störungen (evtl. ist es nur das Atmen des NachÂbarn oder das Scharren mit den Füßen) hindert den/die Schüler*in grundsätzlich daran, vollÂkonzentriert durchzuarbeiten. Bei Unruhe im Raum oder lauten Zwischenfragen in einer PrüÂfungssituation geraten die betroffenen Schüler*innen sofort aus ihrem Arbeitsmodus. Und, um diesen Zustand herzustellen.
Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten, sich auf komplexe Zusammenhänge zu fokussieÂren.
Die Aufgaben müssen daher so strukturiert sein, dass sie im Rahmen der möglichen KonzentrationsÂspanne angemessen erfasst werden können. Komplexe Aufgabenstellungen zu verstehen sowie strukÂturierte Gedankengänge und Zusammenhänge wiederzugeben und zu verbalisieren, fällt aufgrund des steten Abschweifens der Gedanken und der Ablenkung von außen extrem schwer. Das bedeutet nicht, dass die Schüler*innen den Sachzusammenhang bzw. das Thema kognitiv nicht verstanden haben.
Die konkrete Beschreibung der Lernausgangslage lässt sich insbesondere durch das systemisch und pädagogisch analysierende Beobachten des Kindes und seines Lern- und Arbeitsverhaltens im Unterricht beschreiben. Die Beziehungsarbeit zwischen Schüler*in und Lehrkraft sowie gezielte GeÂspräche mit dem Kind helfen oft herauszufinden, wo die konkreten Schwierigkeiten liegen. Im RahÂmen dieses informellen Verfahrens stellt die Lehrkraft so fest, wo die Stärken und die Schwächen beim Kind und seiner Lernentwicklung im Einzelnen liegen.
Grundsätzliche Förderziele beziehen sich immer in erster Linie auf die Bestärkung des Kindes in seiner Selbstwirksamkeit und sowie auf die Förderung des bei ADHS in der Regel nur schwachen Selbstbewusstseins. Vorrangige Förderziele sind daher Förderung der Selbstreflexion und der SelbstÂeinschätzung des Kindes hinsichtlich seiner Lernprozesse und Lernergebnisse, auf die Förderung des selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernens sowie auf die Förderung der AnstrenÂgungs- und Leistungsbereitschaft. (Individuelle Förderung, HKM 2017)
Bei der Festlegung von Förderzielen ist mit Blick auf den jeweiligen Entwicklungsstand zu beÂrücksichtigen, was der/die Schüler*\in aktuell überhaupt erreichen kann und sich bewusst zu machen, dass die Förderziele behinderungsbedingte Defizite nicht heilen können. Es empfiehlt sich daher nur diejenigen Ziele zu formulieren, die innerhalb der jeweiligen Kompetenzbereiche angestrebt werÂden. Die angepeilten Ziele sollten auf zwei bis drei realistische Ziele beschränkt werden und so konÂkret bestimmt sein, dass das Kind damit die Stufe der nächsten Lernentwicklung auch tatsächlich erreichen kann.
Die Förderziele sollten positiv formuliert und konkret beschrieben sein, sie sollten die Indikatoren für die Zielerreichung beinhalten, damit sie als Ziele auch evaluierbar sind. Und es sollte ein ZeitÂpunkt festgelegt werden, an dem alle Beteiligten gemeinsam evaluieren, ob die Förderziele erreicht wurden, bzw. ob sie angepasst oder durch andere Ziele ersetzt werden müssen.
Mit Blick auf die definierten Ziele sind die passenden Fördermaßnahmen zu formulieren, die das Erreichen des jeweiligen Ziels ermöglichen sollen. Unter der Fragestellung „wie können wir das LerÂnen des Kindes unterstützen?“, sollten diese konkret, eindeutig und realistisch umsetzbar formuÂliert werden, damit sie im Unterricht auch eine tatsächliche Hilfe bieten können.
Notebook oder Tablett (auch in Klausuren entsprechend formatiert),
◦ kein Abtippen, sondern Einscannen der Arbeitsblätter und Texte
â—¦ Abfotografieren des Tafeltextes
äußere und inhaltliche Strukturierungshilfen (z.B. klare Textgliederung, größere Buchstaben, Wort- und Zeilenabstände, Aufgabenstellungen schrittweise, Operatorenlisten in der Oberstufe) Vorhersehbarkeit und Strukturen
rechtzeitige Infos zu Unterrichts- und Prüfungssituationen
◦ Räumliche oder personelle Wechsel, Planänderungen sowie Klassenarbeits-/Klausurtermine und -inhalte werden möglichst frühzeitig und in verlässlicher Form (am besten schriftlich bzw. in visualisierter Form) angekündigt, damit der/die Schüler*in ihre Handlungspläne im Vorfeld jeweils anpassen kann.
Kenntnis des Raumes, fester und organisierter Sitzplatz im Klassenraum
möglichst kein Lehrerwechsel
◦ Dadurch können ein höheres Maß an innerer Sicherheit erreicht und Stresssituationen vermieden werden.
Reduzierte Hausaufgaben
â—¦ Beim Auftragen von Hausaufgaben sollte der Fokus auf der didaktisch notwendigen FestiÂgung und Vertiefung der Unterrichtsinhalte liegen. Hausaufgaben, die zu diesem Zweck nicht zwingend notwendig sind, sind zu erlassen. Welche Hausaufgaben dies betrifft, kann im AnÂschluss an den Unterricht kurz mündlich mitgeteilt/notiert werden.
Strukturierte Arbeitsblätter
â—¦ Im Unterrichtsalltag legt die Lehrkraft zeitlichen Vorgaben und Angaben über den Umfang von erwarteten Ergebnissen (Textmenge/ Wortzahl) fest. Der/die Schüler*in wird darin unterÂstützt, komplexe Aufgabenstellungen in einzelne Arbeitsschritte zu gliedern und diese sukzesÂsive zu bearbeiten. Dies gilt insbesondere für Rechercheaufträge und offene Aufgaben.
Klare und eindeutige Arbeitsaufträge
â—¦ Mathematik: Bei Textaufgaben wird auf inhaltliche Klarheit geachtet und nach Möglichkeit Ãœberflüssiges weggelassen. Die Lehrkraft gibt Hilfestellungen für eine strukturierte HerangeÂhensweise an Textaufgaben.
â—¦ Naturwissenschaften: Die Lehrkraft gibt Hilfestellungen für eine strukturierte HerangehensÂweise an materialgestützte Aufgaben
Der/die Schüler*in erhält die Möglichkeit, sich bei Bedarf phasenweise während des Unterrichts in ein räumliÂches Umfeld (z.B. Bibliothek) zurückzuziehen, das vor intensiven akustischen Reizen geschützt ist, um dort ihre Arbeitsaufträge zu erledigen. J. kann ferner Ohrstöpsel nutzen, um in Arbeitsphasen oder bei KlassenarÂbeiten akustische Störgeräusche zu minimieren. Die Lehrkraft gewährt regelmäßige Pausen zur Erholung und dem Sammeln von neuer Konzentration.
Differenzierungen hinsichtlich der Leistungsanforderungen bei gleich bleibenden fachlichen Anforderungen
Nutzung des pädagogischen Ermessenspielraums bei der mündlichen Note
â—¦ Durch gezielte Nachfragen kann geklärt werden, ob die Unterrichtsbeiträge erfasst wurden. Bei der Bewertung der mündlichen Mitarbeit ist zu berücksichtigen, dass der/die Schüler*in sich ggf. nicht an der Besprechung der Hausaufgaben beteiligt, wenn diese im Zuge des NachÂteilsausgleichs erlassen wurden (s. fachübergreifend, Aufgaben und Hausaufgaben)
Dorothea Terpitz, Vorsitzende Gemeinsam leben Hessen e.V. Oktober 2023