Frühsortierung statt Ankommen in Vielfalt

Inklusion Diskriminierung Frankfurt

Müssen Eltern sich in Frankfurt neuerdings schon in der Kita-Zeit für Förderschule oder Inklusion entscheiden?

Über eine Allgemeinverfügung bestimmt das Staatliche Schulamt in Frankfurt, dass die Eltern von Kindern mit Behinderungen bereits bis zu den Osterferien (2022) angeben sollen, ob sie im übernächsten Schuljahr (2023/24) die Inklusion oder die Förderschule für ihr Kind wünschen.

Schüleranmeldung für den Einschulungsjahrgang 2023/24
(Voraussichtlich vor den Osterferien 2022)
Die Schulleitung berät Eltern über schulische Angebote. Die Eltern werden gebeten, ihren Beschulungswunsch (inklusive Beschulung/Förderschule) abzugeben. (Schreiben SSA FFM vom 2.11.2021)

Eltern sollten sich also rechtzeitig wappnen.

Eigentlich ist es ja einfach:
Inklusive Beschulung in der allgemeinen Schule findet nach § 51 HschG „als Regelform in der allgemeinen Schule“ statt. „Alle schulpflichtigen Kinder werden in die allgemeine Schule aufgenommen.“ (§ 54 HSchG)

Selbstverständlich können die Eltern auch die Förderschule wählen. Der Antrag hierfür „ist grundsätzlich bis zum 15. Dezember des Vorjahres zu stellen“ (§ 17 VOSB). Und die langjährigen Erfahrung zeigt: Die Förderschule steht ohnehin auch darüber hinaus jederzeit mit offenen Armen aufnahmebereit da.

Zeigt sich im Gespräch ein begründeter Verdacht auf einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung, zieht die Schulleitung in dieser Phase eine BFZ-Lehrkraft des regionalen Beratungs- und Förderzentrums (bei Fragen der Lern-, Sprachentwicklung, geistige Entwicklung oder des Verhaltens), Vertreter des überregionalen BFZ (bei Seh-, Hör-, Körperbehinderungen) hinzu. In Kooperation mit dem rBFZ/üBFZ führt die Schulleitung der Grundschule bereits jetzt ggf. Gespräche mit dem Schulträger über den erwarteten räumlichen und sächlichen Bedarf.

Die Anmeldung der Kinder eineinhalb Jahre vor Einschulung diente bisher nur der Begutachtung, ob die Kinder wie Aysha oder Nicolaj die deutsche Sprache schulangemessen beherrschen oder nicht doch noch ein wenig Nachhilfe durch das Vorziehen der allgemeinen Schulpflicht brauchen. In Frankfurt nutzt die Schulbehörde die ohnehin schon umstrittene Regelung dann der Einfachheit halber zum Vorsortieren, wer der Begutachtung durch die Sonderpädagogik zugeführt werden sollte?

Bereits hessenweit beobachten wir Fälle von Diskriminierung, weil fehlende Deutschkenntnisse gleichgesetzt werden mit einer Behinderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung oder Lernen. Schon sehr frühzeitig wird bei den Kindern ein Förderanspruch festgestellt, den sie nie wieder loswerden. In diesem Zusammenhang ist es geradezu absurd, dass die Testungen nicht in der Muttersprache der Kinder durchgeführt werden, sondern in der ersten Fremdsprache deutsch! Dass diese Kinder ihre Muttersprache oft ohne Probleme grammatikalisch richtig sprechen, interessiert an dieser Stelle niemanden. Die Testungen weiter nach vorne zu ziehen, bedeutet für diese Kinder, dass die Wahrscheinlichkeit einen Förderbedarf diagnostiziert zu bekommen, stark ansteigen wird.

Nun ist die Grundschule in Frankfurt also sogar offiziell verpflichtet, die BFZ-Kraft lange vor Einschulung hinzuzuziehen. Damit bietet sich nicht nur die gute Gelegenheit, den betroffenen Eltern sehr frühzeitig und in gekonnt emotionaler Haltung zu vermitteln, dass das Kind doch besser in der Förderschule aufgehoben ist. Es bleibt sogar zusätzlich sehr viel Zeit, um auch gleich noch die artgerechte Stellungnahme in Auftrag zu geben und ausformulieren zu lassen.

zieht die Schulleitung in dieser Phase eine BFZ-Lehrkraft des regionalen Beratungs- und Förderzentrums (bei Fragen der Lern-, Sprachentwicklung ...) hinzu

Wollen wir die verstärkte und frühzeitige Aussortierung der Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache, weil mangelnde Kenntnisse der deutschen Sprache eine Lernbarriere für sie darstellen? Bei Kindern, die nicht problemlos und zeitgleich mitlernen reicht die allgemeine Schule gern die Verantwortung an die Sonderpädagogik (z.B. durch Förderschwerpunkt Lernen) weiter. Dieser Förderschwerpunkt folgt aber einem eigenen, abgestuften Bildungsgang. Diese Kinder haben nicht mehr den gleichen Zugang zu Bildung, sie sind also nicht behindert, sie werden behindert.

Wie beurteilt die Schule/die Sonderpädagogik eigentlich bei einem Kind von etwas über vier Jahren die (schulische) Lernentwicklung? Die sog. Lernbehinderung macht sich normalerweise nämlich erst im Lernumfeld der Schule bemerkbar. „Lernhilfe“ als Förderschule oder Förderschwerpunkt gibt es nur im deutschsprachigen Raum, aus fragwürdiger historischer Tradition entstanden, mag er heute diejenigen Schüler:innen unterstützen, die lernzielgleich nicht mithalten können und mit entsprechender individueller Förderung doch ihren Weg gehen. Aber hier bereits Überlegungen bei Vierjährigen zu etwaigen Defiziten anzustellen, entspricht nicht den heutigen Anforderungen einer inklusiven und fördernden Pädagogik.

Wollen wir wirklich damit beginnen, unsere Kinder schon im Alter von vier Jahren vorzusortieren? Ich habe gelernt und erlebe immer wieder, dass viele Kinder (auch die mit Behinderungen!) sich im letzten Jahr vor Schulbeginn noch sehr entwickeln können. Warum lassen wir ihnen nicht die Zeit für ihre Entwicklung?

Ziehen wir nun die Begutachtung vor, weil das praktisch für die Administration ist, die leider nicht das Kind, sondern die eigenen Verfahrenswege und Arbeitsweise im Blick hat? Stellt man das Kind in den Mittelpunkt (vgl. UN-KRK!), sollte man doch gerade diesem erst einmal die Zeit geben, Erfahrungen zu sammeln und Fähigkeiten zu entwickeln, bevor man es sonderpädagogisch auf „Herz und Nieren“ prüft.

Das Schulgesetz bietet verschiedene Alternativen für eine gute Übergangsgestaltung im Jahr vor der Einschulung. Nutzen wir doch lieber diese!

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