„Das Kind braucht das lebenspraktische Angebot"

Auf dem Bahnsteig in Hanau stand neben mir ein junger Mann mit Aktentasche unter dem Arm, das Handy in der ausgebeulten Hosentasche, den Kaffeebecher in der Hand. Er fuhr offensichtlich zur Arbeit, wahrscheinlich hat er einen Bürojob. Er stand ganz selbstverständlich da, strahlte Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit aus. Ich ertappte mich, dass ich staunte, wie selbsverständlich er zum Bild der allmorgendlichen Berufspendler dazugehörte. Der junge Mann hat das Down-Syndrom.

Doch genau da möchten wir hin: Selbstverständliche und selbstbestimmte Teilhabe. Und ich fragte mich sofort, wie sein schulischer Werdegang wohl gewesen sein könnte. In der Schule gibt es Inklusion. Die sollte eigentlich der Regelfall sein. Aber es läuft oft nicht so, wie wir Eltern uns das wünschen. Denn Inklusion in der Schule wird ständig problematisiert und hinterfragt. Auch unsere Kinder werden ständig hinterfragt und überprüft.

In der letzten Zeit erleben wir verstärkt die regelmäßige Herausnahme unserer Kinder mit geistiger Behinderung (= Förderbedarf geistige Entwicklung), kurz GE-Kinder genannt, aus dem allgemeinen Unterricht. Mit dem Argument, sie bräuchten doch die „beste Förderung", organisieren die Schulen den sogenannten „lebenspraktischen Unterricht", mal als Kurs, mal als Module oder sogar gleich in einem ganzen Tag. Die GE-Kinder müssen dann den „normalen" Unterricht in ihrer Klasse verlassen und bekommen das Spezial-Förderlehrerangebot, so z.B. „angeleitetes und freies Spiel, Einkäufe und Rezepte planen und durchführen, produktorientierte Handlungsangebote (wie Backen, Erstellen von Weihnachtskarten, Nähen)". Dieses Angebot müssen sie statt Gesellschaftslehre, Sport und Englisch wahrnehmen.

Auf die Anmerkungen der Eltern, Kochen, Backen, Einkaufen könne das Kind doch auch zuhause üben, verweisen die Vertreter der Schule dann aber sofort auf die geistige Behinderung und kommen mit den Richtlinien für Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 1. Darin werden Kompetenzbereiche beschrieben, in denen geistig behinderte Kinder und Jugendliche gefördert werden sollen. Da es sich bei näherer Durchsicht bei den Vorgaben jedoch nicht nur um „Obstsalat schnippeln, einkaufen gehen oder Schuhe zubinden" handelt2, erfüllen diese Richtlinien durchaus ihren Sinn. Sie stellen allerdings keinen eigenen verpflichtenden Lehrplan dar, der den Lehrkräften auferlegen würde, diese Kompetenzen zusätzlich zu einem inklusiven Unterricht in einem exklusiven Angebot umzusetzen. Die Kompetenzbereiche sollen vielmehr Bestandteil des Unterrichts in einer inklusiv arbeitenden Schule sein. Und es gibt auch tatsächlich Schulen, die das im Rahmen der Binnendifferenzierung ohne größere Schwierigkeiten einbinden. Denn so kommt der inklusive Unterricht auch den anderen Kindern und Jugendlichen zugute und die Unterrichtsqualität verbessert sich insgesamt. Warum reden wir also da derzeit gegen Windmühlen, wenn wir Binnendifferenzierung statt Ausgrenzung fordern?

Die Eltern werden damit beruhigt, der Unterricht in Gesellschaftslehre in der 5. Klasse sei ohnehin zu kognitiv für ihr Kind mit geistiger Behinderung. Das Thema war Frankfurt, „wir orientieren uns in der Stadt". Gerade zu dem Thema hätten wir Eltern allerdings angenommen, es ließe sich wunderbar mit dem lebenspraktischen Konzept verbinden und so dann mal mit der ganzen Klassen gemeinsam machen. Dann kommt sogleich Gegenargument Nr. 2 von Lehrerseite: Wenn die Tochter mit den GE-Kindern zusammen sei, dann könne sie endlich mal das Gefühl haben, nicht mehr die Letzte zu sein. Das stimmt uns eher nachdenklich: Wir schließen daraus, dass es in dieser Schule offensichtlich wichtig ist, nicht der Letzte zu sein. Doch wenn sie es ausnahmsweise mal nicht ist, wer ist es dann?

Außerdem -- und so kommt es todsicher bei jeder Lehrer-GE-Kind-Eltern-Diskussion: Das Kind mit dem besonderen Förderbedarf (sprich: das Kind mit der Behinderung) brauche seine Peer-Group. Nur dann könne es sich richtig wohl fühlen. Es ist nachvollziehbar, dass jeder Mensch seine Peer-Group braucht. Gerade deshalb habe ich z.B. eine Elterninitiative gegründet und bin eben nicht in die Lehrergewerkschaft eingetreten. Doch ich konnte mir im Gegensatz zu den Schülerinnen und Schülern mit Behinderung oder Förderbedarf meine Peer-Group wenigstens selbst aussuchen.

Nico hat das Down-Syndrom. Für ihn und seine Eltern kam nie ein andere Schule infrage, als die vor Ort, in die auch die Nachbarskinder gehen. Das hat in der Grundschule wunderbar funktioniert und das geht sogar (trotz einiger selbst ernannter Bedenkenträger in Sachen Inklusion) an der wohnortnahen IGS. In der 8. Klasse kommt nun aber die Förderlehrerin und meint ihn regelmäßig aus dem Unterricht nehmen zu müssen, damit er mit den anderen GE-Kindern der Schule auch die lebenspraktischen Dinge lernt. Die Eltern hakten nach. Denn Nico hatte geäußert, dass er lieber im Physikunterricht mit seinen Klassenkameraden einen Elektromotor bauen möchte. Die Diskussionen wurden dann durch die reale Situation überholt: Die Förderlehrerin erkrankte und als Ersatz kam ein junger Förderlehrer. Der fragte Nico: „Und, was steht an?", „Elektromotor bauen" erwiderte Nico. Also bauten die Klasse, Nico und der Förderlehrer im Physikunterricht einen Elektromotor. Nico kam hochzufrieden nach Hause. Lebenspraktisches hatte er an dem Tag in zufriedenstellender Form erlebt und das auch noch gemeinsam mit den Klassenkameraden.

Unsere drei Mädels im Bildungsgang geistige Entwicklung waren seit der Grundschule ein Team. Zusammen mit ihrer engagierten Förderlehrerin wechselten sie nach der 4. Klasse in die Inklusion zunächst aufs Gymnasium. Und wer sagt, das funktioniere nicht, dem kann man nur erwidern: Geht doch. Natürlich waren sie nicht in allen Unterrichtstunden in der Klasse, aber doch die überwiegende Zeit und eben ohne „lebenspraktische" Unterrichtseinheiten und mit binnendifferenziertem Material. Kalli lernte lesen, schreiben, rechnen. Sie geht heute allein einkaufen, kann den Fahrplan lesen und verstehen und daddelt auf Whatsapp mit den gleichaltrigen Klassenkameradinnen über die aktuellen Themen in der Klasse. Also: ein hunderprozentiger Erfolg der Schule und der Förderlehrerin. Sie hat die drei Mädels im Unterricht bis zur 9. Klasse so weit gebracht, dass wir nun gemeinsam über die inklusive Berufsausbildung nachdenken können. Und doch gibt es seit der 5. Klasse ein Ritual: Die Förderlehrerin eröffnet jedes Elterngespräch damit, dass ihr im Gymnasium/in der IGS und damit in der Inklusion das „lebenspraktische Angebot" fehle. Und jedes Mal antwortet die Mutter, dass sie ihrer Tochter die grundlegenden Fertigkeiten einer Haushaltsführung schon selbst beigebracht habe (eben so wie den beiden anderen Geschwistern auch).

Ein lebenspraktisches Angebot. Das wünsche ich mir immer, wenn ich abends unsere Küche betrete, nachdem mein 17-jähriger Sohn -- demnächst Abiturient -- versucht hat, sich sein Essen dort zu zubereiten... Vor 30 Jahren konnten wir dagegen auf unserem Gymnasium in der 8. Klasse für den Wahlpflichtunterricht wählen zwischen Französisch und Hauswirtschaft. Man nannte es scherzhaft das „Puddingabitur". Meine Freundinnen haben z.T. in ihrer späteren Ausbildung doch auch noch Französisch gelernt. Dass sie in der Schule aber stattdessen Hauswirtschaft gewählt hatten, war für ihre spätere Studien- und Berufswahl nicht entscheidend. Sie hatten uns gegenüber allerdings den Vorteil einer gewissen Lebenspraxis, die man bei so manchem Abiturienten heute vergebens sucht.

Die Tochter einer Bekannten mit Down-Syndrom besuchte all die Jahre in Grundschule und weiterführender Schule die allgemeine Schule im inklusiven Unterricht.
Inklusion? - Geht doch.
Was ist aber Inklusion in der Schule, wenn es in Ausbildung und Beruf nicht weitergehen soll? Lisa meldete sich also auf der zweijährigen Berufsschule an, ihr schwebt eine Ausbildung nach ihren Möglichkeiten im Bereich der Sozialassistenz vor. Die zuständige Förderschule für geistige Entwicklung schickte eine Förderlehrerin mit 16 Förderstunden pro Woche in den Unterricht. Doch statt regulärer Berufsschule mit inklusivem Angebot, nahm die Förderlehrerin Lisa diese 16 Stunden für das sogenannte „lebenspraktische Angebot" aus dem Unterricht. Auf Protest der Mutter betonte der Direktor der Förderschule in seinem ersten Brief, die „Inklusion" werde durch seine Schule organisiert und es stehe der Förderlehrkraft frei, mit der Tochter den Unterricht zu verlassen. Vorwurfsvoll zählte er auf, dass die Eltern seine Planung sabotiert hätten, Lisa mit der anderen GE-Schülerin gemeinsam in einer eigenen „Lerngruppe" zur „möglichst intensiven Betreuung" zu unterrichten, indem sie auf getrennte Klassen für die beiden bestanden hätten. Im zweiten Schreiben an die

Eltern erklärt er: „Da Sie uns mitgeteilt haben, dass Sie keine Berufsvorbereitung für nötig halten, in dem Schülerinnen und Schüler mit entsprechendem Förderbedarf Werkstätten und Arbeitsmöglichkeiten in betreuten Einrichtungen vorgestellt bekommen, haben wir Rücksprache mit dem Staatlichen Schulamt genommen." Daraufhin wurden dann endlich die zusätzlichen 10 Förderstunden abgezogen und Lisa darf wieder den gemeinsamen Unterricht in der Berufsschule besuchen. 10 zusätzliche Förderstunden für ein exklusives „lebenspraktisches Angebot" zur Vorbereitung auf die Werkstatt?

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat uns den Auftrag gegeben, Inklusion umzusetzen und damit die volle und gleichberechtigte Teilhabe jedes einzelnen Mitglieds in der Gesellschaft zu gewährleisten. Es sollte selbstverständlich sein, niemanden auszuschließen und in der Schule ein Angebot vorzuhalten, an dem alle teilhaben können. Der UN-Fachausschuss hat nach der Staatenprüfung 2015 bestätigt, dass das segregierende System abzubauen ist. Das gilt nicht nur für die Förderschulen, das gilt auch in der Umsetzung von Inklusion in den allgemeinen Schulen. Dem steht der aktuelle Trend nach Sortierung nur der Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung in eigene Unterrrichtseinheiten „zur Verbesserung der Lebenspraxis" aber entgegen.

Wir sollten erneut darüber nachdenken, wie wir Inklusion wirklich umsetzen wollen. Die (Teil)förderschule in der Regelschule kann nicht die Lösung sein. Den Lehrkräften geht es um bestmögliche Förderung, den Eltern geht es um bestmögliche Bildung. Warum nicht beides? Und das dann aber bitte für alle Schülerinnen und Schüler...

In guten inklusiven Schulen

--ist die Inklusion von Kindern mit Behinderungen gemeinsame Aufgabe aller Verantwortlichen im Schulbetrieb der allgemeinen Schule. Sie darf nicht nur Angelegenheit der Sonderpädagogik sein.

-- haben die Lehrkräfte das einzelne Kind im Blick und führen einen sorgfältig differenzierten Unterricht durch. Dazu gehört im Sinne aller Schülerinnen und Schüler (nicht nur für die Kinder mit sprachlicher, geistiger, Lern- oder Hörbehinderung oder anderer Muttersprache) ein durchgängig sprachsensibler Unterricht.

-- sehen die Lehrkräfte die Entwicklung des einzelnen Kindes. Sie fragen nicht nur, worin ein Kind gefördert werden muss. Sie fragen auch, was es schon gelernt hat.

-- teilen die Lehrkräfte ihre Schüler nicht in „Schubladen" auf und halten für „behinderte" und „nicht behinderte" Schüler keine inhaltlich unterschiedlichen Unterrichtsprogramme bereit. Stattdessen gestalten die Lehrkräfte einen gemeinsamen Unterricht, der allen Schülern gerecht wird.

-- gibt es Schul- und Unterrichtskonzepte, die Heterogenität und Vielfalt im Blick haben, und endlich auch in der Praxis Anwendung finden. Denn Unterricht in inklusiven Schulen beinhaltet Phasen des selbständigen Lernens und Phasen des kooperativen, gemeinsamen Lernens. In den Phasen des selbständigen Lernens können alle Schüler mithilfe individueller Lernpläne nach ihren Bedürfnissen und in ihrem Tempo lernen. In den Phasen des gemeinsamen Lernens können die Ressourcen der Mitschüler genutzt werden: Kinder lernen von und mit Kindern.

-- unterrichten die Lehrkräfte flexibel, je nach den Bedürfnissen ihrer Schüler. Sie fördern (Klein)Gruppenarbeit in heterogenen oder jahrgangsübergreifenden Schülergruppen im Klassenverband.

-- unterrichten die Lehrkräfte nicht Fächer, sondern Kinder. Sie organisieren das Lernen unterschiedlicher fachlicher Kompetenzen entlang der Lebenswelt ihrer Kinder. Das fördert den Lernerfolg aller Schüler, auch derer ohne Behinderung.

Es ist an der Zeit, dass wir uns endlich mit dem „WIE" befassen und die Diskussion über die Umsetzung von Inklusion auf die Inhalte an der allgemeinen Schule ausrichten und als gemeinsame Aufgaber aller Lehrkräfte betrachten!

Dorothea Terpitz, Februar 2019


  1. Wer nachlesen möchte, was Pädagogen unter Förderung im lebenspraktischen Bereich verstehen (sollten): Kultusministerium Hessen - Foerderschwerpunkt Geistige Entwicklung.pdf 

  2. Wir empfehlen dazu auch: "Süßspeisen" 

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