„Jeder vierte junge Mensch in Hessen von psychischer Erkrankung betroffen“ (Hessisches Kultusministerium, 17.3.2025)
Die Behinderung tritt in Schule erst hervor (u.a. durch Anpassungsdruck im System Schule, Unwissen zu den Möglichkeiten der individuellen Förderung, Traumatisierung).
Seelische Behinderung („psychische Erkrankungen“) in der Schule verunsichert Lehrkräfte, ohne dass sie den Umgang damit abgeben können (Eltern, Therapie, Medizin …).
Um Hilfen und Unterstützung fürs Kind organisieren zu können (zur Umsetzung von Rechtsansprüchen im Schulrecht/"angemessene Vorkehrungen“ im Sinne der UN-BRK) ist die Etikettierung durch medizinische Diagnostik ist (noch) notwendig.
Durch die häufig fehlende therapeutische Versorgung zur Unterstützung der Betroffenen im medizinischen System wird zu viel Zeit verloren.
Das Schulrecht sieht eigene, pädagogisch-diagnostische Vorgehensweisen vor, um drohendes Leistungsversagen zu vermeiden (Nachteilsausgleich, Förderplanung, Häuslicher Sonderunterricht bei Schulunfähigkeit).
Das Verständnis der WHO von Behinderung ist charakterisiert durch den sozialen Bezug:
Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Nah diesem Verständnis haben Menschen zwar gesundheitliche Einschränkungen, aber sie sind nicht behindert, sondern sie werden behindert
Das Ziel muss also sein:
„Wer Inklusion will sucht Wege, wer sie nicht will, sucht Begründungen“ (Hubert Hüppe, Bundesbeauftragter für die Belange von MmB 2009-2013)
Das Verständnis des bio-psychosozialen Modells der WHO hat Eingang ins Schulrecht gefunden:
Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag resultiert aus dem individuellen Rechtsanspruch auf Bildung (Art. 7 i.Vb.m. Art. 2 GG, § 1 HSchG).
Schule muss für das Wohlbefinden ihrer Schüler*innen sorgen (s. Art. 7 GG / § 3 Abs. 9 HSchG)
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteilitg werden. Der Nachteilsausgleich im Schulrecht bezieht explizit die „psychische Erkrankung mit ein (s. Art. 3 GG / § 7 VOGSV)
Die Förderplanung zielt in erster Linie auf die Stärkung des Selbstbewusstseins, der Selbstwirksamkeit (s.u. Bildungsanspruch nach Art. 2 GG auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit) ab.
Das schulisches ZIEL deckt sich also mit dem der UN-BRK:
Die ICD -10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) gilt aktuell im Rahmen der Übergangsvereinbarung noch. Die Codes der ICD-10 beim (fach)ärztlichen Befundbericht dienen der Umsetzung von Leistungs- und Rechtsansprüchen (Abrechnung Krankenkasse/Bewilligung Teilhabeassistenz in Schule). Die F-Codes nach der ICD-10 beinhalten die bisherige Liste der psychischen und Verhaltensstörungen:
F70–F79 Intelligenzminderung (= IQ unter 70, geistige Behinderung!)
F80–F89 Entwicklungsstörungen (ADHS, Autismus, LRS ...)
F90–F98 Verhaltens- und emotionale Störungen (Beginn in Kindheit/Jugend)
F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
Die fachärztliche Diagnostik ersetzt nicht die pädagogische Diagnostik und fachdidaktische Förderung durch die Schule. Der ärztliche Befundbericht dient in der Regel auch nicht als Gebrauchsanweisung fürs Kind.
Die neue Version der ICD-11 fasst nun mehrere Behinderungsformen zu den „Entwicklungsstörungen der neuronalen Reifung“ zusammen, darunter fallen u.a. Autismus, ADHS, Dyskalkulie, LRS/Legasthenie, Dyspraxie, Synästhesie, Tourette-Syndrom, bipolarer Störung und Hochbegabung. Die „Störungen“ sind nach den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen in einer anderen neuronalen Reizverarbeitung im Vergleich zu „neurotypischen“ Menschen begründet. Die geistigen Systeme, die unsere Orientierung und unser Verhalten im gemeinsamen Raum gewährleisten, funktionieren anders. Die Wahrnehmungsverarbeitung und die zentrale Kohärenz unterscheiden sich.
Dem liegt das Anerkenntnis der Vielfalt von Denk- und Verhaltensweisen zugrunde, die über das allgemeine Verständnis von „normal“ hinausgehen, sie stellen also nur eine natürliche Form innerhalb der menschlichen Diversität dar. Das Konzept der Neurodiversität wurde seit 2011 durch die Forschung erarbeitet und findet nun Eingang in die ICD-11.
Um es mit den Mitteln der digitalen Welt auszudrücken ist Autismus u.ä.. also „kein Fehler auf der Festplatte, nur ein anderes Betriebssystem!“
„Die fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar.“ (Urteil vom 22. November 2023, AZ 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2579/15, 1 BvR 2578/15, RN 35)
Es wird ausgeführt, dass „eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen mit Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an. Geschützt sind auch chronisch oder psychisch Kranke, wenn sie längerfristig und gewichtig beeinträchtigt sind.“. (Rn. 36, Urteil des BVerfG vom 22.11.2023, 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2579/15, 1 BvR 2578/15).
„Die Symptome der neurobiologischen Funktionsstörung … [halten] längerfristig regelmäßig sogar lebenslang an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind zudem gewichtig. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung gilt dies insbesondere während der Schulzeit“. (Rn. 43)
„Die erheblichen psychischen Erkrankungen, die bei Schülern mit einer Legasthenie weit überdurchschnittlich auftreten, [gehören] selbst nicht zum Krankheitsbild der Legasthenie. Sie machen aber doch deutlich, welchen Belastungen legasthene Schüler ausgesetzt sind“. (Rn. 43)
1. Zentrale Kohärenz
Keine Wahrnehmung im Gesamtzusammenhang, sondern Fokussierung auf Einzelemente, die dann wie Puzzle-Teilchen zusammengesetzt werden, positiv: gutes Erkennen von stereotypen Mustern (u.a. visuell)
2. Exekutive Funktionen
Fehlende strategische Handlungsplanung, keine Prioritäten, keine unterbewusst automatisierten Prozesse, keine bewusste Aufmerksamkeitssteuerung
3. Reizverarbeitung
Fähigkeit Umweltreize zu filtern und zu priorisieren, fehlt oder ist geschwächt
4. Kommunikation und Interaktion
Sprache/Sprachverständnisprobleme
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“
Bundesverfassungsgericht erläutert die Grundlage des indviduellen Rechtsanspruchs auf Bildung in seinem Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21. Das Grundrecht auf Bildung besteht als individueller Anspruch gegen den Staat (Art. 7 GG).
Die Minderjährigen benötigen noch Schutz und Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten in der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können.
Lehrkräfte benötigen also hinreichende Kenntnisse des Schulrechts und seiner Möglichkeiten, ihre Aufgaben zwischen dem Erreichen des Klassenziels und dem Recht des einzelnen Kindes erreichen zu können. Dabei schafft das Schulrecht aber Freiräume: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt!
Die VOGSV als Rechtsgrundlage sieht die Entscheidung im Team vor, Abwägung werden gemeinsam getroffen, so ruht die Verantwortung auf vielen Schultern.
Die Vermeidung von drohendem Leistungsversagen ist oberstes Prinzip des Schulrechts:
§ 3 Abs. 9 HSchG
„Die Schule ist zur Wohlfahrt der Schülerinnen und Schüler und zum Schutz ihrer seelischen und körperlichen Unversehrtheit, geistigen Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit verpflichtet. Darauf ist bei der Gestaltung des Schul- und Unterrichtswesens Rücksicht zu nehmen.“
§ 3 Abs. 6 HSchG
„Die Schule ist so zu gestalten, dass ... jede Schülerin und jeder Schüler unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage in der körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung angemessen gefördert wird.“ → Individuelle Förderung
„Es ist Aufgabe der Schule, drohendem Leistungsversagen und anderen Beeinträchtigungen des Lernens, der Sprache sowie der körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung mit vorbeugenden Maßnahmen entgegenzuwirken.“ → Vermeidung von Leistungsversagen
Der erste Abschnitt der Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) ist der Umsetzung der individuellen Förderung und dem Nachteilsausgleich bei Behinderung und Funktionsbeeinträchtigung gewidmet.
Der Nachteilsausgleich tritt durch Beschluss der Klassenkonferenz nach formlosem Antrag der Eltern oder auf eigene Initiative der Schule in Kraft (§ 7 Abs. 5 VOGSV).
Die Klassenkonferenz entscheidet dabei über die Gewährung und die Dauer eines Nachteilsausgleichs.
Sie beschreibt konkret differenzierte Maßnahmen auf den jeweiligen Einzelfall bezogen.
Die Maßnahmen des Nachteilsausgleich gehören in die Förderplanung.
Die ZIELGRUPPE für den Nachteilsausgleich sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
Die Schule versucht möglichst gleichwertige Voraussetzungen für den Zugang zum Lernen und zu den Prüfungen zu schaffen. (Vgl. Art.3 GG)
Die Förderplanung als Prozess ist pädagogische Aufgabe der Lehrkräfte:
„Unterschiede ... sind als individuelle Entwicklungschance zu sehen. Ihnen ist durch ein differenziertes Lernangebot und einen binnendifferenzierenden Unterricht Rechnung zu tragen.“ (§ 1 VOBGM)
„Diese Unterrichtsart gibt niemandem das Gefühl, anders oder komisch zu sein und hilft, die schulische Leistung zu verbessern und das Selbstbewusstsein zu stärken.“ (Schülerin 2011, aus: Individuelle Förderung, HKM 2012.)
„Im Rahmen der individuellen Förderplanung sind der Entwicklungsstand, die Lernausgangslage ... zu bestimmen und im Förderplan zu beschreiben. Ausgehend hiervon sind individuelle Förderziele abzuleiten sowie konkrete Maßnahmen der Schule zu formulieren. … Der Förderplan wird mindestens einmal im Schulhalbjahr fortgeschrieben.“ (§ 6 VOGSV)
Schulen und Eltern können zur gemeinsamen Ausgestaltung ihres jeweiligen Erziehungsauftrages Erziehungsvereinbarungen treffen (§ 100 Abs. 2 Hessisches Schulgesetz). Die Eltern sind beim Abschluss der Erziehungsvereinbarung auf den mit ihr verfolgten Zweck und die Freiwilligkeit hinzuweisen. (§ 1a VOGSV)
In einer Erziehungsvereinbarung kann zur Vermeidung eines vorläufigen Ruhens der Schulpflicht … im Einvernehmen mit der Schulaufsichtsbehörde festgelegt werden, dass eine Schülerin oder ein Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung nur an einem Teil des Unterrichts … teilnimmt. Diese Festlegung darf maximal für die Dauer von drei Monaten gelten und beinhaltet im Förderplan die Beschreibung der Förderziele, … In Ausnahmefällen ist eine einmalige Verlängerung um bis zu drei Monate möglich. § 77 VOGSV
Schülerinnen und Schüler, die auf Dauer oder für voraussichtlich mehr als sechs Wochen aus gesundheitlichen Gründen zum Besuch einer Schule nicht fähig sin, ... kann die Erteilung von Sonderunterricht im Umfang von bis zu acht Wochenstunden gewährt werden.
(3) Der Sonderunterricht erfolgt in Abstimmung mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt. Über die Gewährung von Sonderunterricht entscheidet das Staatliche Schulamt. Es holt hierzu eine Stellungnahme der Schule ein. (§ 29 VOSB)
Das „Bermuda-Dreieck“ zwischen Theorie und Praxis:
Die Folgen für das einzelne Kind können beträchtlich sein: Abweisung, Stigmatisierung, Etikettierung, Diskriminierung führen zur fehlenden Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit
Die seelische Behinderung beim Kind kann sich noch verstärken.
Denn Schule ist der Ort, an dem psychische Störungen auffallen, zur Teilhabebeeinträchtigung führen (J.Fegert, Abschlussbericht 2021, S. 124)
F-Diagnosen gehören zu den häufigsten Diagnosen im Kindes-und Jugendalter, die zu einer Krankenhaus-Behandlung führen: Angststörungen, Anpassungsstörungen, Hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens.
Ca. 1/4 der Kinder und Jugendlichen sind von psychischen und/oder Verhaltensproblemen betroffen
Ca. 6 % aller Kinder unter 18 Jahren sind behandlungsbedürftig psychisch krank und erfüllen entsprechende Diagnosekriterien.
50 % der behandlungsbedürftigen Kinder bekommen keine Behandlung (Studie zur Versorgung psychisch kranker Kinder, Ltg. Prof. Fegert, Uni Ulm, 2018-2021 )
➔ Mangelnde Versorgung („schwarze Löcher“)
➔ Mangelnde Vernetzung der Systeme und fehlende Zusammenarbeit