Wichtige Informationen und rechtliche Grundlagen zum Umgang damit in der Schule:
Die Lese-Rechtschreib-Störung (LRS, früher auch als Legasthenie bezeichnet) gehört zu den Teilleistungsstörungen, die Schüler*innen beim Lernen und bei der Leistungsfeststellung erheblich beeinträchtigen können. Um betroffene Kinder und Jugendliche bestmöglich zu unterstützen, gibt es in Hessen klare Richtlinien und Maßnahmen.
Die in dem Abschnitt F80 - F89 zusammengefassten Störungen haben folgende Gemeinsamkeiten:
„In den meisten Fällen sind unter anderem die Sprache, die visuell-räumlichen Fertigkeiten und die Bewegungskoordination betroffen. In der Regel bestand die Verzögerung oder Schwäche vom frühestmöglichen Erkennungszeitpunkt an. Mit dem Älterwerden der Kinder vermindern sich die Schwierigkeiten zunehmend, wenn auch geringere Defizite oft im Erwachsenenalter zurückbleiben.
Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.“ (Quelle: ICD-10)
In der ICD-11 werden diese Störungen als Lernstörungen in der Gruppe der „neurodevelopmental disorders“ zusammen mit ADHS, Depression, Autismus, Tourette-Syndrom und Schizophrenie zusammengefasst. Eine wesentliche Veränderung ist die Klassifikation einer isolierten Lesestörung und die Erweiterung der Rechtschreibstörung als Störung des schriftsprachlichen Ausdrucks. Die Schwierigkeiten dürfen nicht durch eine geistige Behinderung verursacht sein, weshalb zur Diagnose der IQ Test immer noch dazu gehört. (Gerd Schulte-Körne, Verpasste Chancen: Die neuen diagnostischen Leitlinien zur Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung der ICD-11, März 2021). Die Überarbeitung der ICD bestätigt mit ihren diagnostisch-medizinischen Leitlinien erneut klar, dass es sich um eine spezifische Form der Behinderung handelt, die nur begrenzt therapierbar ist. Es können mit entsprechender Förderung Kompensationsstrategien erlernt werden, die die Situation für die Betroffenen zumindest ein wenig verbessert Die Lese- und Rechtschreibprobleme haben ihre Ursache nicht in einer geistigen Behinderung (bei IQ unter 70), sondern stellen eine eigenständige Behinderung dar.
Ein aktuelles Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu LRS stellt fest:
Die bei den Beschwerdeführern fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. (Urteil vom 22. November 2023, AZ 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2579/15, 1 BvR 2578/15, RN 35)
Die nach ICD-10/ICD-11 diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung ist also als Behinderung zu betrachten. Das Verfassungsgericht betont, dass die Schüler*innen mit LRS einen Rechtsanspruch auf gleichwertige Bildungschancen nach Art. 3 GG haben. Der Staat muss alle Schüler*innen mit Behinderungen bei der Leistungsbewertung gleichbehandeln, unabhängig von ihrer spezifischen Beeinträchtigung. Das sog. Benachteiligungsverbot gilt nicht nur gegenüber nicht-behinderten Schüler*innen, sondern eben auch gerade gegenüber anderen Schüler*innen mit Behinderungen.
Im Schulrecht in Hessen ist es komplizierter. Grundsätzlich gilt nach § 37 VOGSV:
(1) Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder beim Rechnen haben in allen Schulformen Anspruch auf individuelle Förderung (§ 3 Abs. 6 Satz 3 Schulgesetz).
Jede Schule muss ein schulbezogenes Förderkonzept für Schüler*innen bei nicht näher bestimmten „besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben sowie beim Rechnen“ entwickeln (§ 37 Abs. 4 VOGSV). § 38 Abs. 1 VOGSV schreibt in diesem Fall die Förderdiagnostik durch die Lehrkräfte vor:
Die Feststellung der besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen gehört zu den Aufgaben der Schule.
Darüber hinaus ist Schule gefordert, mit einer vorliegenden Behinderung wie die fachärztlich anerkannte LRS adäquat im Sinne von Art. 3 GG umzugehen und die dafür festgeschriebenen rechtlichen Grundlagen zu beachten. Das sind nach dem Schulrecht die Förderplanung nach § 5 VOSB/§ 6 VOGSV und die Anwendung des Nachteilsausgleichs nach § 7 VOGSV (auf den auch die Regelung in § 42 VOGSV verweist).
Wenn es sich nach Auffassung der hessischen Schulbehörde bei Vorliegen von LRS jedoch „nur“ um „besondere Schwierigkeiten" handele, die erstens durch die Lehrkräfte diagnostiziert werden (§ 38 VOGSV) und zweitens von den Lehrkräften so gefördert werden können, dass eine Verbesserung eintritt, müssen die dafür notwendigen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und der individuellen Förderung „spätestens bis zum Ende der Sekundarstufe I abgeschlossen sein“ (vgl. § 39 Abs. 4 VOGSV).
Die Idee der besonderen Förderbedürftigkeit bei LRS mag auf einen Teil der „besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben, Rechnen“ für diejenigen zutreffen, denen die allgemeine Schule die notwendigen Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht rechtzeitig erfolgreich vermitteln konnte und die eine Schwäche entwickelt haben. Dann ist selbstverständlich davon auszugehen, dass durch eine gute schulische Förderung eine Verbesserung eintritt und weitere Hilfen und Nachteilsausgleiche in höheren Jahrgangsstufen nicht mehr nötig sind.
Bei einer fachärztlich diagnostizierten LRS (Behinderung im Sinne von Art. 3 GG!) muss selbstverständlich jedes Kind mit Behinderung eine besondere individuelle Förderung durch die Schule erhalten. Zudem müssen sich Lehrkräfte darüber im Klaren sein, dass eine Behinderung dadurch geprägt ist, dass sie seit frühester Kindheit besteht, mehr als sechs Monate vom alterstypischen Zustand abweicht, nicht heilbar und nur in Grenzen therapierbar ist.
Die Themen LRS, Förderplan und Nachteilsausgleich können in den Verordnungen und Richtlinien des Hessischen Kultusministeriums nachgelesen werden. Relevante Paragraphen sind dabei:
Der Nachteilsausgleich für Schüler*innen mit LRS wird in der Regel in der Klassenkonferenz vereinbart. Diese Konferenzen setzen sich aus den Lehrkräften der Klasse oder des jeweiligen Fachbereichs zusammen, die gemeinsam über die Fördermaßnahmen beraten und entscheiden. Gemäß § 7 Abs. 5 oder § 42 Abs. 4 VOGSV trifft die Klassenkonferenz die Entscheidung über die Gewährung und Dauer eines Nachteilsausgleichs oder das Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung oder -bewertung.
Gemäß § 6 Abs. 2 VOGSV wird der Förderplan mindestens einmal im Schulhalbjahr fortgeschrieben also in der Regel halbjährlich überprüft und aktualisiert. Erfahrungsgemäß erfolgt die Überprüfung des Nachteilsausgleichs meist auch einmal jährlich. Bei Bedarf, etwa, wenn sich der Förderbedarf des Schülers oder der Schülerin ändert, können auch häufigere Anpassungen vorgenommen werden.
Für Schüler*innen mit Behinderungen ist gemäß § 5 VOSB grundsätzlich ein Förderplan zu erstellen, die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs sind nach § 7 Abs. 5 VOSGV in den Förderplan aufzunehmen. Für Schüler*innen mit einer nur durch die Lehrkräfte festgestellten LRS gilt in Hessen zusätzlich,
„Alle Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung oder -bewertung müssen ihre Grundlage in den individuellen Förderplänen der Schülerinnen und Schüler haben (§ 42 Abs. 3 VOGSV).
Jede Änderung des Förderplans und Nachteilsausgleichs muss schriftlich dokumentiert werden. Diese Dokumentation ist den Eltern und gegebenenfalls dem Schüler oder der Schülerin vorzulegen und mit ihnen zu besprechen, um Transparenz und Mitwirkung zu gewährleisten (VOGSV § 6, Abs. 1).
In der Oberstufe und beim Abitur müssen spezielle Regelungen und Nachteilsausgleiche im Sinne der Nicht-Diskriminierung nach Art. 3 GG in jedem Fall berücksichtigt werden. Hierzu gehören beispielsweise verlängerte Prüfungszeiten, die Bereitstellung von Hilfsmitteln oder besondere Unterstützung bei der Bewertung der sprachlichen Leistungen. Die genauen Maßnahmen sollten im individuellen Förderplan festgehalten und regelmäßig überprüft werden.
Bei den Schüler*innen mit einer vorliegenden Behinderung (d.h. der fachärztlich festgestellten LRS) gilt die Regelung nach § 7 VOGSV. Der Nachteilsausgleich ist immer und in jedem Fall individuell durch differenzierte Maßnahmen, die die Klassenkonferenz beschließt, umzusetzen (vgl. § 7 VOGSV). Für die Q-Phase und die Abiturprüfung gelten besondere Regelungen (vgl. Broschüre Nachteilsausgleich).
Bei Schüler*innen mit nicht näher bestimmten „besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben, Rechnen“ gilt dagegen:
die Schulaufsichtsbehörde – das zuständige Staatliche Schulamt – entscheidet nach § 39 Abs. 4 Satz 2 VOGSV einmalig zu Beginn der Sekundarstufe II auf Antrag der Eltern oder der volljährigen Schülerin oder des volljährigen Schülers, ob ein besonders begründeter Ausnahmefall vorliegt, der eine Fortsetzung besonderer Fördermaßnahmen in den Bildungsgängen der Sekundarstufe II rechtfertigt. Welche Fördermaßnahmen zu ergreifen sind, also das „Wie“, entscheidet die Klassenkonferenz. (Quelle: Kultusministerium 28.2.2024)
Einen Nachweis über eine vormals durchgängige Förderung – auch wenn diese von den Schulen nicht immer angeboten wird - wird von den Schulen in der gymnasialen Oberstufe oft verlangt. Sie findet sich aber nirgends im Schulrecht.
Schüler*innen mit LRS werden häufig aus Unkenntnis der schulischen Regelungen unbewusst diskriminiert, indem die Schulen nicht gewillt sind, die notwendigen angemessenen Vorkehrungen durch Nachteilsausgleich und Förderplanung zu treffen. Noch weitreichender ist aber die Benachteiligung bei den Schüler*innen mit einer fachärztlich diagnostizierten Dyskalkulie, d.h. bei anerkannten Problemen im Rechnen und im mathematischen Bereich. Die Ursache ist eine neurobiologische Störung bestimmter Areale im Gehirn, es handelt sich um eine Behinderung, die nicht heilbar und nur in Grenzen therapierbar ist. Diese Kinder haben im hessischen Schulsystem das Recht auf Unterstützung sowie auf einen Nachteilsausgleich nur bis zum Ende der Grundschulzeit. Danach müssen sie sehen, wie sie im Schulleben zurechtkommen. Hierzu fehlen in Hessen immer noch die notwendigen gesetzlichen Regelungen mit Blick auf Art. 3 GG.