Arbeitspapier insbesondere mit Blick auf die Rechte von Kindern mit körperlichen / geistigen Einschränkungen
Anlass: Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 -
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr097121.html
[Stand: November 2022]
Das Gericht hat in seinem Beschluss zum ersten Mal das „Grundrecht auf Bildung“ herausgearbeitet – als individuellen Anspruch der Kinder und Jugendlichen gegen den Staat.
Das Gericht hält zunächst folgende „Selbstverständlichkeit“ fest:
Kinder und Jugendliche haben ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. [RN 45]
Das ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 GG (Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ...), denn auch Kinder und Jugendliche sind „Jeder“ im Sinne der Verfassung.
Das Gericht stellt weiter fest, dass die Minderjährigen noch Schutz und Hilfe benötigen, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten in der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können [RN 45].
Das Gericht verweist dann auf Art. 6 Abs. 2 GG, wonach für diesen Schutz und Hilfe erst einmal die Eltern zuständig sind: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Da jedoch Eltern auch nicht alles aus eigener Kraft schaffen können, muss die Gemeinschaft, muss der Staat das Umfeld so gestalten, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht an den Rahmenbedingungen scheitert. Das Gericht formuliert wie folgt:
… der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind. [RN 45]
Und weiter:
Diese … besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen.
Das Gericht leitet daraus ab, dass nicht nur die Eltern ein Recht auf geeignete Rahmenbedingungen haben, sondern dass die Kinder und Jugendlichen wegen eigene Recht gegenüber dem Staat geltend machen können:
auch Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft; [RN 46]
Vom „Recht auf Unterstützung und Förderung bei der Entwicklung“ ist es für das Gericht nur ein kleiner Schritt zum Recht auf schulische Bildung. Es weist darauf hin, dass die Pflicht zur Einrichtung eines Bildungssystems ohnehin bereits dem Staat übertragen ist:
Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen. [RN 48]
Der Bogen schließt sich in der Argumentation des Gerichts, indem es die Einrichtung des Bildungssystems als ein (wesentliches) Element der „Unterstützung und Förderung“ durch den Staat definiert:
Der Staat kommt also, wenn er gemäß dem Auftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG die Schulbildung gewährleistet, zugleich seiner ihm nach Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber den Kindern und Jugendlichen obliegenden Pflicht nach, sie bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und zu fördern. [RN 48]
Die große Bedeutung der neuen Entscheidung liegt darin, dass das Gericht durch die Kombination (a) des individuellen Anspruchs auf Gestaltung der Lebensbedingungen und (b) der objektiven Verpflichtung zur Einrichtung eines Bildungssystems klar herleitet, dass der Staat gegenüber allen einzelnen Kindern und Jugendlichen die Pflicht hat,
… schulische Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die deren Persönlichkeitsentwicklung dienen. [RN 48]
So ist nun geklärt, dass neben der allgemeinen organisatorischen Pflicht des Staates, ein Schulsystem vorzuhalten, auch das individuelle Grundrecht der Kinder und Jugendlichen besteht, ein solches schulisches Bildungsangebot nutzen zu können.
Mit der Klärung, dass ein Grundrecht auf Nutzung eines schulischen Angebots besteht, ist der Umfang dieses Anspruchs gegen den Staat im Einzelfall leider noch nicht definiert.
Das Gericht verwendet den Begriff der „unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen“, ohne diesen bisher wirklich mit Leben zu füllen:
Das Recht auf schulische Bildung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG gibt Schülerinnen und Schülern die Befugnis, die Einhaltung eines für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen an staatlichen Schulen zu verlangen.
Vielmehr billigt das Gericht dem Staat sogar zu, sich bei schulischer Bildung auf einen „Vorbehalt des Möglichen“ zu berufen. Der Vorbehalt hat allerdings durchaus Grenzen, das Gericht spricht vom
überragende[n] Gewicht, das dem Recht auf chancengleiche schulische Bildung als einer neben der elterlichen Pflege und Erziehung stehenden Grundbedingung für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der Gemeinschaft zukommt,
sowie vom
besonders bedeutsame[n] Gemeinwohlinteresse, durch Schulbildung zu einer gelingenden Integration der jungen Menschen in Staat und Gesellschaft beizutragen.
Die Details werden vermutlich in der nächsten Zeit von der Rechtsprechung weiterentwickelt.
Soweit der Staat allerdings bereits ein Angebot vorhält, muss dieses allen Kindern diskriminierungsfrei zugänglich sein. Daher folgt aus dem Recht auf schulische Bildung in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein Recht auf gleiche Teilhabe an den staatlichen Bildungsleistungen. [RN 59]
Der oben genannte „Vorbehalt des Möglichen“ kann also nicht einfach zulasten behinderter Kinder gehen, denn das würde dem Gleichheitssatz widersprechen.
Das Gericht verweist auf verschiedene internationale Abkommen, die insbesondere Diskriminierung beim Zugang zu Bildung verbieten, darunter ausdrücklich auf die UN-BRK:
Eine Diskriminierung behinderter Menschen beim Zugang zur Schule verbietet Art. 24 Abs. 2 Buchstaben a und b des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [...], wobei nach Art. 24 Abs. 2 Buchstabe c [UN-]BRK angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule zu ermöglichen. [RN 69]
Das Gericht bezieht dieses internationale Recht in das Gesamtkonzept des nationalen Grundrechtsschutzes mit ein. Das bedeutet aber auch, dass internationale Rechtsprechung (zum Beispiel vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) zu Auslegung herangezogen werden kann.
Das Bundesverfassungsgericht erwähnt verschiedene völkerrechtliche Verträge, die bereits jeweils Diskriminierung beim Zugang zu Bildung oder zu Bildungseinrichtungen verhindern sollen [Beschluss BVerfG, RN 66 ff.]. Damit ist belegt, dass das nunmehr als ausdrückliches verfassungsmäßiges Grundrecht bestätigte Recht auf Bildung (eigentlich) ohnehin schon längere Zeit Teil unseres Rechtssystems war.
Ein „Recht auf Bildung“ ist in Art. 26 enthalten.
Nach Art. 13 Abs. 2 Buchstaben a und b des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) ist insbesondere der Zugang zur Schule zu gewährleisten
Art. 2 Abs. 2 IpwskR gewährleistet einen diskriminierungsfreier Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen.
Gemäß Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf Bildung auf der Grundlage der Chancengleichheit an
Nach Art. 2 Satz 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (ZP I EMRK) darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden
Recht auf Zugang zu Bildung in Art. 22 Abs. 1
Art. 24 Abs. 2 Buchstaben a und b des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) verbietet die Diskriminierung behinderter Menschen beim Zugang zur Schule.
Nach Art. 24 Abs. 2 Buchstabe c sind angemessene Vorkehrungen zu treffen, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule zu ermöglichen.
Art. 5 Buchstabe e Unterabs. V verbietet die Diskriminierung beim Zugang zur Schule
Art. 10 Buchstabe a verbietet die Diskriminierung beim Zugang zur Schule
Art. 14 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) gewährt ausdrücklich ein Recht auf Bildung:
Art. 14 – Recht auf Bildung (1) Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung. (2) Dieses Recht umfasst die Möglichkeit, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen.